DIE PROBE DER LANGEN MESSER
Aber wir
sind vom gleichen Volk!« Fadawar, ein großer, adlernasiger
dunkelhäutiger Mann, sprach mit dem schweren Akzent und den langen
Vokalen, an die sich Nasuada aus ihrer Kindheit in Farthen Dûr
erinnern konnte, wenn Abgesandte vom Stamm ihres Vaters gekommen
waren. Sie hatte auf Ajihads Schoß gesessen und gedöst, während sie
sich unterhielten und Carduskraut rauchten.
Nasuada schaute zu Fadawar auf und wünschte
sich, fünfzehn Zoll größer zu sein, sodass sie dem Feldherrn und
seinen vier Gefolgsleuten direkt in die Augen hätte sehen können.
Allerdings war sie an Männer gewöhnt, die sie überragten. Viel
beunruhigender fand sie es, zwischen Leuten zu stehen, die ebenso
dunkelhäutig waren wie sie. Es war eine neue Erfahrung für sie,
einmal nicht der Grund für neugierige Blicke und geflüsterte
Kommentare zu sein.
Sie stand in ihrem roten Kommandozelt, wo
sie ihre Audienzen abhielt, vor einem mit Schnitzereien verzierten
Stuhl, einem der wenigen massiven Stühle, die die Varden auf ihren
Feldzug mitgenommen hatten. Die Sonne war kurz davor unterzugehen
und ihre Strahlen fielen rechts durch die Zeltplane wie durch
farbiges Glas und verliehen dem Inneren einen rötlichen Schimmer.
Ein langer niedriger Tisch, auf dem Berichte und Landkarten
verstreut lagen, nahm die eine Hälfte des Zeltes ein.
Sie wusste, dass draußen vor dem Eingang die
sechs Mitglieder ihrer Leibgarde - zwei Menschen, zwei Zwerge und
zwei Urgals - mit gezogenen Waffen wachten, jederzeit zum Angriff
bereit, falls sie auch nur den leisesten Hinweis erhielten, dass
sie in Gefahr war. Jörmundur, ihr ältester und vertrautester
Befehlshaber, hatte sie seit dem Tag, an dem Ajihad gestorben war,
mit Leibwächtern ausgestattet, aber noch nie mit so vielen über
eine so lange Zeit. Am Tag nach der Schlacht auf den Brennenden
Steppen hatte er seine tiefe und anhaltende Besorgnis um ihre
Sicherheit ausgedrückt. Eine Sorge, die ihm, wie er sagte, des
Öfteren nachts Magenschmerzen bereitete und den Schlaf raubte.
Nachdem in Aberon ein Attentäter versucht hatte, sie umzubringen,
und Murtagh es vor einer knappen Woche bei König Hrothgar gelungen
war, fand Jörmundur, Nasuada solle sich eine Truppe zu ihrer
eigenen Verteidigung zusammenstellen. Sie hatte eingewandt, ein
solcher Schritt sei eine Überreaktion, doch Jörmundur war nicht
davon abzubringen gewesen. Er hatte damit gedroht, seinen Posten
aufzugeben, wenn sie diese Vorsichtsmaßnahme ablehnte. Schließlich
hatte sie eingewilligt, nur um die darauffolgende Stunde mit ihm
darum zu feilschen, wie viele Leibwächter sie brauchte. Er hatte
mindestens zwölf rund um die Uhr gefordert, sie wollte höchstens
vier. Sie hatten sich auf sechs geeinigt, was Nasuada immer noch zu
viel erschien. Sie befürchtete, man würde sie für ängstlich halten,
oder noch schlimmer, es könnte so aussehen, als wollte sie ihre
Besucher einschüchtern. Doch ihre Einwände hatten Jörmundur auch
diesmal nicht zum Einlenken bewegen können. Als sie ihn als sturen
alten Schwarzseher bezeichnete, lachte er nur und sagte: »Besser
ein sturer alter Schwarzseher als ein leichtsinniger Naseweis, der
vor der Zeit tot ist.«
Da die Wachen alle sechs Stunden abgelöst
wurden, belief sich die Zahl der zu Nasuadas Schutz abgestellten
Krieger auf vierunddreißig, inklusive der zehn, die bereitstanden,
um ihre Kameraden im Fall von Krankheit, Verletzung oder Tod zu
ersetzen.
Es war Nasuada, die darauf bestanden hatte,
ihre Leibgarde aus den drei sterblichen Völkern zu rekrutieren, die
gegen Galbatorix ins Feld zogen. Dadurch hoffte sie, eine größere
Solidarität zwischen ihnen zu erreichen und ihnen zu zeigen, dass
sie die Interessen aller Völker unter ihrem Kommando vertrat und
nicht nur die der Menschen. Sie hätte auch die Elfen miteinbezogen,
doch im Moment war Arya die Einzige, die an der Seite der Varden
und ihrer Verbündeten kämpfte. Die zwölf Magier, die Islanzadi
ausgesandt hatte, um Eragon zu beschützen, würden erst noch
eintreffen. Zu Nasuadas Enttäuschung hatten sich die Menschen- und
Zwergenwächter feindselig gegenüber den Urgals verhalten, mit denen
sie ihren Dienst versahen. Eine Reaktion, die sie missbilligte,
aber gegen die sie machtlos war. Sie wusste, es würde mehr als eine
gemeinsame Schlacht nötig sein, um die Spannungen zwischen den drei
Völkern abzubauen. Sie hatten sich so viele Generationen lang
gehasst und bekämpft, dass Nasuada sich nicht die Mühe machte
nachzuzählen. Es schien ihr immerhin ermutigend, dass sich die
Mitglieder ihrer Leibgarde als Nachtfalken bezeichneten. Eine
Anspielung sowohl auf ihre Hautfarbe als auch auf den Namen
Nachtjägerin, den ihr die Urgals gegeben hatten.
Auch wenn sie es Jörmundur gegenüber nie
zugeben würde, hatte Nasuada doch sehr schnell das Gefühl von
Sicherheit schätzen gelernt, das ihr die Leibwächter vermittelten.
Sie waren nicht nur Meister im Gebrauch ihrer jeweiligen Waffen -
ob es dabei nun um die Schwerter der Menschen, die Äxte der Zwerge
oder die abenteuerlichen Kampfwerkzeuge der Urgals ging -, bei
vielen der Krieger handelte es sich auch um geschickte Magier.
Außerdem hatten sie ihr alle in der alten Sprache die ewige Treue
geschworen. Seit dem Tage ihres Dienstantritts hatten die
Nachtfalken Nasuada mit niemandem mehr allein gelassen, von ihrer
Magd Farica einmal abgesehen.
Das heißt, bis heute.
Heute hatte Nasuada sie hinausgeschickt,
weil sie wusste, dass es bei ihrem Treffen mit Fadawar zu
Blutvergießen kommen konnte, was die Nachtfalken zum Einschreiten
gezwungen hätte. Aber auch so war sie nicht ganz wehrlos. In den
Falten ihres Gewandes hatte sie einen Dolch versteckt und ein
kleineres Messer im Mieder ihres Unterkleides. Außerdem stand das
hellsichtige Hexenkind Elva hinter einem Vorhang, jederzeit bereit
einzugreifen, falls es nötig wurde.
Fadawar klopfte mit seinem vier Fuß langen
Zepter auf den Boden. Der reich verzierte Stab war aus massivem
Gold, ebenso wie sein fantastisches Spektrum an Schmuck: goldene
Armreife bedeckten die Unterarme, ein Panzer aus gehämmertem Gold
schützte den Brustkorb, an seinem Hals hingen lange dicke
Goldketten und ziselierte Weißgoldscheiben dehnten die Ohrläppchen.
Auf dem Kopf ruhte eine Goldkrone von so gigantischen Ausmaßen,
dass Nasuada sich fragte, wie Fadawars Hals das Gewicht tragen
konnte, ohne sich zu krümmen, und wie ein so monumentales Gebilde
halten konnte. Es schien, als wäre die mindestens zweieinhalb Fuß
hohe Krone an seinem knochigen Schädel festgenagelt, damit sie
nicht herabfiel.
Fadawars Männer waren ähnlich, wenn auch
nicht ganz so prachtvoll herausgeputzt. Das Gold, das sie trugen,
sollte nicht nur ihren Reichtum, sondern auch den Status und die
Verdienste jedes Einzelnen symbolisieren sowie das Geschick ihrer
weithin berühmten Handwerker zur Schau stellen. Als Nomaden genauso
wie als Stadtbewohner waren die dunkelhäutigen Völker von Alagaësia
seit Langem für ihre Schmuckkunst bekannt, die in ihrer Vollendung
mit den Arbeiten der Zwerge wetteiferte.
Nasuada besaß auch ein paar Stücke, aber sie
verzichtete darauf, sie zu tragen. Ihre schlichten Gewänder konnten
nicht mit Fadawars Pracht mithalten. Ferner hielt sie es nicht für
klug, sich zu einer bestimmten Gruppierung zu bekennen, ganz gleich
wie wohlhabend oder einflussreich sie sein mochte, da sie alle
unterschiedlichen Volksstämme der Varden zu führen und zu vertreten
hatte. Wenn sie ihre Vorliebe für den einen oder anderen zeigte,
würde sie das Vertrauen der großen Masse verlieren.
Und genau das war der Grund für ihre
Auseinandersetzung mit Fadawar.
Der stieß sein Zepter erneut in den Boden.
»Das Blut ist das Allerwichtigste! An erster Stelle stehen die
Verpflichtungen gegenüber der Familie, dann gegenüber dem Stamm,
dann gegenüber den Feldherrn, dann gegenüber den Göttern über und
unter uns und erst dann gegenüber dem König und dem Land. So hat es
Unulukuna bestimmt und so sollten wir leben, wenn wir glücklich
sein wollen. Seid Ihr mutig genug, auf die Schuhe des Ältesten zu
spucken? Wenn ein Mensch seiner Familie nicht hilft, von wem kann
er dann Beistand erwarten? Freunde sind wankelmütig, die Familie
bleibt für immer.«
»Ihr habt mich gebeten«, sagte Nasuada,
»Euren Verwandten machtvolle Positionen zu geben, nur weil Ihr der
Cousin meiner Mutter seid und mein Vater bei euch geboren wurde.
Ich täte dies mit Vergnügen, wenn Eure Verwandten die Positionen
besser ausfüllen könnten als sonst irgendjemand bei den Varden.
Aber nichts, was Ihr bisher gesagt habt, konnte mich davon
überzeugen, dass das der Fall ist. Und bevor Ihr noch mehr von
Eurer goldzüngigen Redekunst verschwendet, solltet Ihr wissen, dass
die Berufung auf unser gemeinsames Blut für mich bedeutungslos ist.
Ich würde Eurer Bitte größere Beachtung schenken, wenn Ihr jemals
etwas für meinen Vater getan hättet, anstatt nur Tand und leere
Versprechungen nach Farthen Dûr zu schicken. Erst jetzt, wo ich
Siege errungen und Einfluss gewonnen habe, sucht Ihr meine
Bekanntschaft. Nun, meine Eltern sind tot, und ich sage Euch, ich
habe keine Familie außer mir selbst. Ihr seid von meinem Volke,
ganz recht, aber das ist auch alles.«
Fadawar kniff die Augen zusammen, reckte das
Kinn und sagte: »Der Stolz einer Frau ist immer ohne Sinn und
Verstand. Ihr werdet ohne unsere Unterstützung scheitern.«
Er war in seine Muttersprache gewechselt,
was Nasuada dazu zwang, das Gleiche zu tun. Dafür hasste sie ihn.
Ihre stockende, unsichere Sprechweise verriet die mangelnde
Vertrautheit mit ihrer Muttersprache, ließ erkennen, dass sie nicht
in Fadawars Stamm aufgewachsen war, und machte sie zur
Außenseiterin. Auf diese Weise untergrub er ihre Autorität. »Ich
freue mich immer über neue Verbündete«, sagte sie. »Trotzdem kann
ich weder Vetternwirtschaft dulden noch solltet Ihr sie nötig
haben. Eure Stämme sind stark und gut ausgerüstet. Sie sollten
imstande sein, in den Rängen der Varden rasch aufzusteigen, ohne
sich auf die Gunst anderer verlassen zu müssen. Seid ihr halb
verhungerte Köter, die winselnd an meinem Tisch sitzen, oder
Männer, die sich selbst ernähren können? Wenn ihr das könnt, freue
ich mich darauf, mit euch zusammenzuarbeiten, um die Geschicke der
Varden zu verbessern und Galbatorix zu besiegen.«
»Pah!«, rief Fadawar erzürnt. »Euer Angebot
ist so verlogen wie Ihr selbst. Wir verrichten keine Lakaienarbeit.
Wir sind die Auserwählten. Ihr beleidigt uns, jawohl! Ihr steht da
und lächelt, aber Euer Herz ist voller Gift wie der Stachel eines
Skorpions.«
Nasuada schluckte ihren Zorn hinunter und
versuchte, den Feldherrn zu besänftigen. »Es war nicht meine
Absicht, Euch zu beleidigen. Ich habe lediglich versucht, Euch
meinen Standpunkt klarzumachen. Ich stehe den umherziehenden
Stämmen weder feindselig gegenüber noch hege ich für sie besondere
Sympathien. Ist das so schlecht?«
»Mehr als das, es ist blanker Verrat! Euer
Vater hat im Namen unserer verwandtschaftlichen Beziehungen immer
wieder Forderungen an uns gestellt und jetzt weist Ihr unsere
Dienste zurück und schickt uns fort wie armselige Bettler!«
Ein Gefühl der Resignation überkam
Nasuada. Dann hat Elva also recht gehabt
und es ist unvermeidlich, dachte sie. Angst und Gereiztheit
stiegen in ihr auf. Wenn es also sein
muss, dann habe ich keinen Grund mehr, diese Farce
aufrechtzuerhalten. Mit erhobener Stimme sagte sie:
»Forderungen, die Ihr zumeist nicht erfüllt habt.«
»Das haben wir!«
»Das habt Ihr nicht. Und selbst wenn Ihr die
Wahrheit sagtet, ist die Lage der Varden zu heikel, als dass ich
Euch ohne Gegenleistung etwas geben würde. Ihr verlangt
Privilegien, aber was bietet Ihr dafür? Wollt Ihr die Varden mit
Eurem Gold und Euren Juwelen unterstützen?«
»Nicht direkt, aber...«
»Wollt Ihr mir kostenlos Eure Handwerker zur
Verfügung stellen?«
»Das könnten wir nicht...«
»Wie beabsichtigt Ihr dann, Euch diese
Vergünstigungen zu verdienen? Ihr könnt nicht mit Kriegern
bezahlen, Eure Männer kämpfen bereits für mich, entweder im
Vardenheer oder in dem von König Orrin. Seid zufrieden mit dem, was
Ihr habt, Feldherr, und trachtet nicht nach mehr, als Euch
rechtmäßig zusteht.«
»Ihr verdreht die Wahrheit zugunsten Eurer
eigenen egoistischen Ziele. Ich will nur das, was uns rechtmäßig
zusteht! Darum bin ich hier. Ihr redet und redet, aber Eure Worte
bedeuten nichts, denn durch Eure Taten betrügt Ihr uns.« Seine
Armreife klimperten, während er gestikulierte, als hätte er ein
Publikum von Tausenden von Leuten vor sich. »Ihr gebt zu, dass wir
ein Volk sind - befolgt Ihr dann auch unsere Sitten und betet
unsere Götter an?«
Das ist der springende
Punkt, dachte Nasuada. Sie könnte jetzt lügen und
behaupten, sie habe die alten Pfade verlassen, aber wenn sie das
täte, würden die Varden Fadawars Stämme verlieren und noch andere
Nomaden dazu, wenn sie von ihren Worten erführen. Wir brauchen sie aber. Wir brauchen jeden, den wir
kriegen können, wenn wir auch nur die leiseste Chance haben wollen,
Galbatorix zu stürzen.
»Ja, das tue ich«, sagte sie.
»Dann behaupte ich, dass Ihr unfähig seid,
die Varden anzuführen, und fordere Euch zur Probe der Langen Messer
heraus. Wenn Ihr gewinnt, unterwerfen wir uns Euch und werden nie
wieder Eure Autorität in Frage stellen. Aber wenn Ihr verliert,
werdet Ihr abtreten und ich werde Euren Platz als Oberhaupt der
Varden übernehmen.«
Nasuada erkannte das schadenfrohe Funkeln in
Fadawars Augen. Darauf hat er es schon
die ganze Zeit über abgesehen, wurde ihr
klar. Er hätte auch dann auf der Probe
bestanden, wenn ich seine Forderungen erfüllt hätte. Dann
sagte sie: »Vielleicht irre ich mich, aber verlangt die Tradition
nicht, dass der Sieger das Kommando sowohl über die Stämme seines
Gegners wie auch über seine eigenen erhält. Ist es nicht so?«
Fadawars betretene Miene brachte sie fast zum
Lachen. Damit hast du nicht gerechnet,
dass ich das weiß, was?
»Ja, so ist es.«
»Dann nehme ich Eure Herausforderung an,
unter der Voraussetzung, dass - falls ich gewinne - Eure Krone und
Euer Zepter mir gehören. Seid Ihr einverstanden?«
Fadawar verzog das Gesicht und nickte. »Ja.«
Dann rammte er das Zepter so tief in den Boden, dass es von allein
stehen blieb, und fing an, den vordersten Armreif mühsam über seine
kräftige Hand zu streifen.
»Wartet«, sagte Nasuada. Sie ging zu dem
Tisch hinüber und nahm eine kleine Messingglocke in die Hand, die
sie erst zweimal und nach einer Pause noch viermal läutete.
Gleich darauf betrat Farica das Zelt. Sie
blickte Nasuadas Gäste freimütig an, machte einen Knicks und sagte:
»Ja, Herrin?«
Nasuada nickte Fadawar kurz zu. »Wir können
fortfahren.« Dann wandte sie sich an ihre Magd: »Hilf mir, das
Kleid auszuziehen. Ich möchte es mir nicht ruinieren.«
Die ältere Frau sah sie entsetzt an. »Hier,
Herrin? Vor all diesen... Männern?«
»Ja, hier. Und beeil dich! Seit wann muss
ich mit meiner Dienerin herumstreiten.« Es hatte strenger geklungen
als beabsichtigt, aber ihr Herz raste und ihre Haut war
unerträglich empfindlich. Das weiche Leinen ihres Unterkleides kam
ihr so rau vor wie Segeltuch. Geduld und Höflichkeit brachte sie
jetzt nicht mehr auf. Sie konnte sich nur noch auf den
bevorstehenden Wettstreit konzentrieren.
Nasuada stand bewegungslos da, während
Farica an der Schnürung des Kleides zupfte und zog, die von den
Schulterblättern bis ans Ende der Wirbelsäule reichte. Als die
Bänder lose genug waren, zog Farica ihr die Ärmel von den Armen.
Die Hülle aus gerafftem Stoff legte sich als Haufen um Nasuadas
Füße und ließ sie beinahe nackt in ihrem weißen Unterhemd zurück.
Sie kämpfte ein Schaudern nieder, als die vier Krieger sie schamlos
beäugten. Unter ihren begehrlichen Blicken fühlte sie sich hilflos.
Ohne sie zu beachten, trat sie einen Schritt vor und Farica klaubte
das Kleid von der Erde.
Nasuada gegenüber war Fadawar damit
beschäftigt, die Armreife von seinen Unterarmen zu ziehen. Darunter
kamen die bestickten Ärmel seines Gewandes zum Vorschein. Als er
fertig war, nahm er die wuchtige Krone vom Kopf und übergab sie
einem seiner Gefolgsleute.
Plötzlich erhob sich vor dem Zelt
Stimmengewirr und sorgte für eine Unterbrechung der Vorbereitungen.
Ein Botenjunge - Nasuada erinnerte sich, dass er Jarsha hieß - kam
herein, pflanzte sich ein oder zwei Fuß vom Eingang entfernt auf
und meldete: »König Orrin von Surda, Jörmundur von den Varden,
Trianna von der Du Vrangr Gata und Naako und Ramusewa vom Stamm der
Inapashunna.« Dabei heftete er den Blick fest auf die Decke des
Zeltes.
Dann verschwand er wieder und die
angekündigte Versammlung trat ein, Orrin an der Spitze. Der König
sah als Erstes Fadawar und begrüßte ihn mit den Worten: »Ah,
Feldherr, das ist aber eine Überraschung. Ich hoffe, Ihr und -«
Erstaunen machte sich auf seinem jugendlichen Gesicht beim Anblick
Nasuadas breit. »Aber, Nasuada, was hat das zu bedeuten?«
»Das würde ich auch gern wissen«, knurrte
Jörmundur. Er packte den Schwertknauf und funkelte jeden böse an,
der es wagte, Nasuada allzu unverhohlen anzustarren.
»Ich habe euch hereingebeten, weil ich
möchte, dass ihr als Zeugen der Probe der Langen Messer zwischen
Fadawar und mir beiwohnt und hinterher jedem, der danach fragt, die
Wahrheit über den Ausgang des Zweikampfes erzählt.«
Die beiden grauhaarigen Stammesmitglieder
Naako und Ramusewa schien ihre Ankündigung in Aufruhr zu versetzen.
Sie steckten die Köpfe zusammen und fingen an zu flüstern. Trianna
verschränkte die Arme und entblößte an ihrem schlanken Handgelenk
ein gewundenes Schlangenarmband - ansonsten zeigte sie keinerlei
Regung. Jörmundur fluchte. »Habt Ihr den Verstand verloren, Herrin?
Das ist Wahnsinn. Ihr könnt doch nicht...«
»Ich kann und ich werde.«
»Wenn Ihr das tut, Herrin...«
»Ich verstehe deine Sorge, aber mein
Entschluss steht fest. Und ich verbiete, dass sich irgendjemand
einmischt.« Sie merkte, dass er ihren Befehl nur zu gern missachtet
hätte, aber sosehr er sie auch vor Schaden bewahren wollte,
Loyalität hatte für Jörmundur schon immer höchste Priorität
besessen.
»Aber Nasuada«, sagte König Orrin, »diese
Probe ist doch nicht die, wo -«
»Doch.«
»Verdammt noch mal. Warum lasst Ihr dieses
irrwitzige Wagnis nicht bleiben? Ihr müsstet doch verrückt sein, es
auf Euch zu nehmen.«
»Ich habe Fadawar bereits mein Wort
gegeben.«
Die Stimmung im Zelt wurde noch ernster. Da
sie ihr Wort gegeben hatte, konnte sie nicht mehr zurück, ohne zur
ehrlosen Eidbrecherin zu werden, die jeder Mann von aufrechter
Gesinnung nur verachten und meiden konnte. Orrin schwankte einen
Moment lang, dann drang er doch weiter in sie: »Was steht auf dem
Spiel? Ich meine, wenn Ihr verlieren solltet?«
»Wenn ich verlieren sollte, unterstehen die
Varden nicht mehr mir, sondern Fadawar.«
Nasuada hatte einen Proteststurm erwartet,
stattdessen entstand eine Stille, in der sich die zornige Erregung
in König Orrins Gesicht legte und ruhiger Entschlossenheit Platz
machte. »Ich kann Euer Vorhaben, das unsere ganze Sache in Gefahr
bringt, nicht billigen.« Und an Fadawar gewandt, sagte er: »Wollt
Ihr nicht vernünftig sein und Nasuada aus der Pflicht entlassen?
Ich werde Euch reich belohnen, wenn Ihr zustimmt und Euer
unsinniges Vorhaben aufgebt.«
»Ich bin reich genug«, gab Fadawar zurück.
»Ich brauche Euer minderwertiges Gold nicht. Nein, nur die Probe
der Langen Messer kann mich für die Beleidigung entschädigen, die
meinem Volk und mir durch Nasuada widerfahren ist.«
»Jetzt erfüllt Eure Pflicht«, sagte
Nasuada.
Orrins Finger krallten sich in sein Gewand,
aber er verbeugte sich und sagte: »Wie Ihr wünscht.«
Nun holten Fadawars vier Krieger kleine
haarige Ziegenhauttrommeln aus ihren weiten Ärmeln hervor. Sie
hockten sich hin, nahmen die Instrumente zwischen die Knie und
entfesselten einen so höllischen Rhythmus, dass ihre Hände nur noch
als schwarze Schemen in der Luft zu erkennen waren. Die wilden
Klänge übertönten jedes andere Geräusch, auch die fieberhaften
Gedanken, die durch Nasuadas Kopf geschwirrt waren. Es fühlte sich
an, als würde ihr Herz Schritt halten mit dem rasenden Tempo der
Trommelschläge, die ihre Ohren attackierten.
Ohne einen Ton auszulassen, holte der
älteste von Fadawars Männern zwei lange gebogene Messer aus seinem
Gewand und warf sie zur Spitze des Zeltes hinauf. Nasuada sah
fasziniert zu, wie sie sich mit einer anmutigen Bewegung in der
Luft drehten.
Als die Messer in Reichweite kamen, streckte
sie den Arm aus und fing eins davon auf. Der opalbesetzte Griff
schrammte über ihre Handfläche.
Auch Fadawar griff erfolgreich nach seiner
Waffe.
Dann schob er sich den linken Ärmel bis über
den Ellbogen hoch. Nasuada heftete den Blick auf seinen Unterarm.
Er war kräftig und muskulös, doch sie maß dem keine besondere
Bedeutung bei. Sein athletischer Körperbau würde ihm nicht helfen,
den Wettkampf zu gewinnen. Wonach sie suchte, waren die
verräterischen wulstigen Narben, die sich, wenn es sie gab, über
die Wölbung seines Unterarms ziehen mussten.
Sie entdeckte fünf davon.
Fünf!, dachte
sie. So viele. Ihr
Selbstvertrauen geriet ins Wanken, als sie über diesen Beweis für
Fadawars Stärke nachdachte. Das Einzige, was sie davor bewahrte,
die Nerven zu verlieren, war Elvas Voraussage. Das Mädchen hatte
gesagt, Nasuada werde gewinnen. Sie hat
gesagt, dass ich es schaffe, also muss ich Fadawar besiegen
können... Ich muss es können!
Da er die Herausforderung ausgesprochen
hatte, war Fadawar zuerst dran. Er streckte den rechten Arm mit der
Handfläche nach oben auf Schulterhöhe von sich, platzierte die
Klinge seines Messers direkt unter der Armbeuge und zog die blank
polierte Schneide über die Haut. Sie platzte wie eine überreife
Beere und Blut rann aus dem dunkelroten Spalt.
Dann sah er Nasuada an.
Lächelnd setzte sie ihr Messer an den Arm.
Das Metall war eiskalt. Es war eine Frage des Willens, wie viele
Schnitte man ertragen konnte. Die Varden glaubten, dass jemand, der
die Position eines Stammesfürsten oder Feldherrn anstrebte, bereit
sein sollte, für das Wohl seines Volkes größeren Schmerz
auszuhalten als jeder andere. Wie sonst konnten sie sich darauf
verlassen, dass ihr Anführer das Gemeinwohl über seine eigenen
egoistischen Wünsche stellen würde? Nasuada war der Meinung, diese
Praxis fördere den Extremismus, aber sie wusste ebenfalls, dass die
Geste einem das Vertrauen des Volkes einbrachte. Auch wenn die
Probe der Langen Messer nur bei den dunkelhäutigen Stämmen Brauch
war, würde ein Sieg über Fadawar ihre Stellung unter allen Varden
und hoffentlich auch bei König Orrins Leuten stärken.
Sie sandte noch schnell einen Hilferuf an
Gokukara, die Heuschreckengöttin, und zog dann das Messer über
ihren Arm. Das scharfe Metall glitt so leicht durch ihre Haut, dass
sie aufpassen musste, nicht zu tief zu schneiden. Der Schmerz jagte
ihr einen Schauder durch die Glieder. Am liebsten hätte sie das
Messer im hohen Bogen von sich geworfen und stöhnend die Hand auf
die Wunde gepresst.
Doch sie tat nichts dergleichen, sondern
achtete nur darauf, dass ihre Muskeln entspannt blieben. Wenn sie
sie anspannte, würde es nur noch mehr wehtun. Und sie lächelte
sogar, während die Klinge langsam ihren Körper verstümmelte. Es
dauerte nur drei Sekunden, aber in dieser Zeit sandte ihr
aufbegehrender Körper tausend Schmerzensschreie aus und jeder von
ihnen ließ sie fast aufgeben. Als sie das Messer sinken ließ,
bemerkte sie, dass die Stammesangehörigen noch immer auf ihre
Trommeln eindroschen, obwohl sie nichts mehr hörte außer ihrem
eigenen Pulsschlag.
Dann schnitt Fadawar sich zum zweiten Mal.
Die Sehnen an seinem Hals traten deutlich hervor, und seine
Halsschlagader wölbte sich, als würde sie jeden Augenblick platzen,
während das Messer erneut seine blutige Spur zog.
Nasuada wurde klar, dass sie wieder an der
Reihe war. Dass sie jetzt wusste, was sie erwartete, machte ihr nur
noch mehr Angst. Ihr Selbsterhaltungstrieb - ein Instinkt, der ihr
bei vielen anderen Gelegenheiten gute Dienste erwiesen hatte -
kämpfte gegen die Befehle an, die sie an Arm und Hand sandte.
Verzweifelt konzentrierte sie sich auf ihren Wunsch, die Varden zu
beschützen und Galbatorix zu stürzen; die beiden großen Ziele, die
ihr ganzes Dasein bestimmten. Sie sah ihren Vater und Jörmundur und
Eragon und das Volk der Varden im Geiste vor sich und
dachte: Für sie! Ich tue es für sie. Ich
bin geboren, um zu dienen, und das ist mein Dienst an
ihnen.
Dann machte sie den nächsten Schnitt.
Einen Augenblick später setzte Fadawar den
dritten Schnitt und Nasuada tat es ihm nach.
Der vierte Schnitt folgte nur wenig
später.
Dann der fünfte …
Eine seltsame Lethargie ergriff von ihr
Besitz. Sie war todmüde und fror. Da wurde ihr plötzlich klar, dass
die Fähigkeit, Schmerz auszuhalten, vielleicht gar nicht
entscheidend für den Ausgang der Probe war, sondern vielmehr die
Frage, wer zuerst verblutete. Das Blut rann ihr übers Handgelenk
die Finger hinab und tropfte in die große Pfütze zu ihren Füßen.
Eine ähnliche, wenn auch größere sammelte sich um Fadawars
Stiefel.
Die Reihe klaffender Schnitte am Arm des
Feldherrn erinnerte Nasuada an Fischkiemen, eine Vorstellung, die
etwas unglaublich Komisches an sich hatte, sodass sie ein Kichern
unterdrücken musste.
Mit einem Schrei schaffte es Fadawar, den
sechsten Schnitt zu vollenden. »Mach mir das erst mal nach, du
törichte Hexe!«, brüllte er über den Lärm der Trommeln hinweg und
sank auf ein Knie.
Sie tat es.
Fadawar zitterte, als er das Messer von der
rechten Hand in die linke wechselte. Die Tradition schrieb
höchstens sechs Schnitte pro Arm vor, damit niemand Gefahr lief,
die Venen und Sehnen am Handgelenk zu verletzen. Als Nasuada
ebenfalls die Hand wechselte, sprang Orrin dazwischen. »Halt! Ich
werde nicht zulassen, dass Ihr weitermacht. Ihr bringt Euch noch
um.«
Er wollte Nasuada wegziehen, fuhr aber
zurück, als sie nach ihm stach. »Mischt Euch nicht ein«, knurrte
sie mit zusammengebissenen Zähnen.
Nun fing Fadawar mit dem rechten Arm an und
ein Blutstrahl spritzte zwischen seinen Muskeln
hervor. Er verkrampft
sich, dachte Nasuada und hoffte, dass ihn dieser Fehler
zur Strecke brachte.
Sie konnte nicht anders, als einen wortlosen
Schrei auszustoßen, als das Messer ihre Haut aufschlitzte. Die
scharfe Klinge brannte wie ein weißglühender Draht. Mitten im
Schnitt zuckte ihr malträtierter linker Arm. Das Messer machte die
Bewegung mit und ließ einen langen Zickzackschnitt zurück, der
doppelt so tief war wie die anderen. Sie hielt den Atem an, während
sie die Qual herunterkämpfte. Ich kann
nicht mehr,dachte sie. Ich kann
nicht... kann nicht! Das ist zu viel. Lieber will ich sterben...
Ach, bitte mach, dass es aufhört! Die stummen
Verzweiflungsrufe verschafften ihr ein wenig Erleichterung, aber
tief im Herzen wusste sie genau, dass sie niemals aufgeben
würde.
Zum achten Mal setzte Fadawar jetzt das
Messer an, die Klinge schwebte ein Viertel Zoll über seiner
schwarzen Haut in der Luft. Dabei lief ihm der Schweiß über die
Augen und seine Wunden weinten rubinrote Tränen. Es sah fast so
aus, als habe ihn der Mut verlassen, doch dann bleckte er die Zähne
und schnitt sich mit einem Ruck den Arm auf.
Sein Zögern gab ihr neue Kraft. Ein
grimmiger Ehrgeiz ergriff von ihr Besitz und verwandelte ihren
Schmerz in ein Gefühl von Euphorie. Sie tat es Fadawar gleich - und
dann, angespornt von ihrer plötzlichen Unerschrockenheit, setzte
sie das Messer gleich noch einmal an.
»Macht mir das erst mal nach«, flüsterte sie.
Die Aussicht, gleich zwei Schnitte auf
einmal machen zu müssen - einen, um mit Nasuada gleichzuziehen, und
einen, um sie zu übertrumpfen -, schien Fadawar zu verunsichern. Er
blinzelte, leckte sich die Lippen und veränderte seinen Griff am
Messer dreimal, bevor er es sich endlich über den Arm hielt.
Dann leckte er sich erneut über die
Lippen.
Seine linke Hand zuckte und das Messer fiel
ihm aus den verkrampften Fingern und bohrte sich mit der Spitze
voran in den Boden.
Er bückte sich danach. Unter seinem Gewand
hob und senkte sich sein Brustkorb rasend schnell. Er hob die
Klinge an seinen Arm und prompt sickerte ein wenig Blut hervor.
Fadawars Unterkiefer knirschte, ein Schauder durchzuckte ihn, dann
krümmte er sich und presste die verwundeten Arme an den Leib. »Ich
unterwerfe mich«, sagte er.
Die Trommeln verstummten.
Die darauf folgende Stille hielt nur einen
Moment an, ehe König Orrin, Jörmundur und alle anderen im Zelt
begeistert durcheinanderriefen.
Nasuada achtete nicht auf ihre Äußerungen.
Sie tastete nach ihrem Stuhl, um ihre Beine zu entlasten, bevor sie
unter ihr nachgaben. Als ihr schwarz vor Augen zu werden drohte,
rang sie darum, bei Bewusstsein zu bleiben, denn vor den
Stammesangehörigen in Ohnmacht zu fallen, war das Letzte, was sie
wollte. Jemand drückte sanft ihre Schulter, und als sie aufsah,
erkannte sie, dass Farica mit einem Stapel Verbandszeug neben ihr
stand.
»Darf ich Euch verbinden, Herrin?«, fragte
die Dienerin, ihre Miene war besorgt und zögernd zugleich, als wäre
sie nicht sicher, wie Nasuada reagieren würde.
Nasuada nickte zustimmend.
Während Farica anfing, ihre Arme mit
Leinenstreifen zu umwickeln, traten Naako und Ramusewa vor sie. Sie
verbeugten sich und Ramusewa sagte: »Noch nie zuvor hat jemand bei
der Probe der Langen Messer so viele Schnitte ertragen. Ihr habt
alle beide sehr viel Mut bewiesen, aber Ihr seid zweifellos die
Siegerin. Wir werden unserem Volk von Eurer Tat berichten und sie
werden Euch den Treueeid schwören.«
»Danke«, sagte Nasuada. Sie schloss die
Augen, weil das Pulsieren in ihren Armen stärker wurde.
»Herrin.«
Um sich herum hörte Nasuada Stimmengewirr,
das zu verstehen sie sich nicht die Mühe machte. Stattdessen zog
sie es vor, sich tief in sich selbst zurückzuziehen, wo der Schmerz
nicht so unmittelbar und bedrohlich war. Sie schwebte in einem
grenzenlosen schwarzen Raum, beleuchtet von formlosen Klecksen, die
ständig die Farbe änderten.
Da wurde ihre Ruhepause von Triannas Stimme
unterbrochen, als die Zauberin sagte: »Lass das, Dienstmagd,
entferne die Bandagen, damit ich deine Herrin heilen kann.«
Nasuada öffnete die Augen und bemerkte
Jörmundur, König Orrin und Trianna, die sich über sie beugten.
Fadawar und seine Männer hatten das Zelt verlassen. »Nein«, sagte
Nasuada.
Die Gruppe sah sie erstaunt an, dann sagte
Jörmundur: »Nasuada, Euer Geist ist umnachtet. Die Probe ist
vorbei. Ihr braucht diese Schnitte jetzt nicht mehr. In jedem Fall
müssen wir die Blutungen stillen.«
»Farica macht das sehr gut. Ein Heiler soll
die Wunden nähen und einen Umschlag gegen die Schwellung machen,
das ist alles.«
»Aber warum?«
»Die Probe der Langen Messer verlangt von
den Teilnehmern, ihre Wunden in ihrem natürlichen Tempo heilen zu
lassen. Sonst haben wir nicht das volle Maß an Schmerzen ertragen,
das die Probe mit sich bringt. Wenn ich die Regeln verletze, wird
Fadawar zum Sieger erklärt.«
»Wollt Ihr mir wenigstens erlauben, Eure
Leiden zu lindern?«, fragte Trianna. »Ich kenne verschiedene
Beschwörungen, die jeden Schmerz auslöschen. Wenn Ihr vorher bei
mir gewesen wärt, hätte ich es so eingerichtet, dass Ihr Euch ein
Bein hättet abschlagen können, ohne das geringste körperliche
Unbehagen zu verspüren.«
Nasuada musste lachen und ließ den Kopf auf
die Seite rollen, denn ihr war ziemlich schwindelig. »Meine Antwort
wäre dieselbe gewesen wie jetzt: Betrügereien sind unehrenhaft. Ich
musste die Probe auf ehrliche Weise gewinnen, damit niemand später
meine Anführerschaft infrage stellen kann.«
In gefährlich sanftem Ton sagte König Orrin:
»Was, wenn Ihr verloren hättet?«
»Ich konnte nicht verlieren. Selbst wenn es
meinen Tod bedeutet hätte, ich hätte es nie zugelassen, dass
Fadawar die Kontrolle über die Varden an sich reißt.«
Orrin musterte sie eine Weile mit ernster
Miene. »Das glaube ich Euch. Nur, ist die Loyalität der Stämme ein
solches Opfer wert? Schließlich seid Ihr nicht so leicht zu
ersetzen.«
»Die Loyalität der Stämme? Nein. Aber, wie
Ihr wisst, wird das hier viel weitreichendere Auswirkungen haben.
Es sollte uns dabei helfen, unsere Streitkräfte zu einen. Und
dieser Preis ist für mich wertvoll genug, um bereitwillig einem
ganzen Haufen unangenehmer Tode die Stirn zu bieten.«
»Erklärt mir bitte, was die Varden gewonnen
hätten, wenn Ihr heute tatsächlich ums Leben gekommen wärt? Davon
hätte niemand etwas gehabt. Euer Vermächtnis wären Chaos,
Entmutigung und wahrscheinlich der Niedergang der Varden
gewesen.«
Immer wenn Nasuada Wein, Met und besonders
Schnaps trank, wurde sie sehr vorsichtig, was sie sagte und tat.
Denn auch wenn sie es nicht gleich merkte, so wusste sie doch, dass
der Alkohol ihr Urteilsvermögen und ihre Koordinationsfähigkeit
herabsetzte, und sie wollte sich nicht unpassend benehmen oder
anderen im Umgang mit ihr einen Vorteil verschaffen.
Schmerztrunken, wie sie war, hätte sie in
ihrem Gespräch mit Orrin so auf der Hut sein müssen, als hätte sie
sich drei Fässer von dem Brombeer-Honigwein der Zwerge einverleibt.
Denn dann hätte sie ihr ausgeprägter Sinn für Höflichkeit davor
bewahrt, folgendermaßen zu antworten: »Ihr seid ängstlich wie ein
alter Mann, Orrin. Ich musste es tun und es ist vorbei. Es ist
sinnlos, sich jetzt noch darüber zu streiten... Ich habe etwas
riskiert, ja. Aber wir können Galbatorix nicht besiegen, ohne am
Rande des Verderbens entlangzubalancieren. Ihr seid ein König. Da
solltet Ihr wissen, dass die Gefahr ein Mantel ist, den es
überzuziehen gilt, wenn ein Mann - oder eine Frau - so arrogant
ist, über die Geschicke anderer Menschen bestimmen zu
wollen.«
»Das weiß ich sehr wohl«, knurrte Orrin.
»Meine Familie und ich haben Surda seit Generationen jeden Tag
unseres Lebens gegen die Übergriffe des Imperiums verteidigt,
während sich die Varden nur in Farthen Dûr verschanzt und Hrothgars
Großzügigkeit ausgenutzt haben.« Sein Gewand wirbelte um ihn herum,
als er auf dem Absatz kehrtmachte und aus dem Zelt
marschierte.
»Das war nicht sehr klug, Herrin«, bemerkte
Jörmundur.
Nasuada zuckte zusammen, als Farica ihre
Verbände festzog. »Ich weiß«, keuchte sie. »Ich werde den Schaden
morgen beheben.«